12.12.2023 Alexander Bissels

Update „Gesamtschutzverfahren“ – Zum aktuellen Stand der „Däubler-Kampagne“

  • Bekanntermaßen hat das BAG am 31.05.2023 festgestellt, dass die Tarifwerke der Zeitarbeit den europarechtlichen Vorgaben der Zeitarbeitsrichtlinie, die der EuGH in dessen Entscheidung vom 15.12.2022 konkretisiert hat, entsprechen und folglich eine wirksame Grundlage darstellen, um vom Gleichstellungsgrundsatz, insbesondere durch eine arbeitsvertragliche Bezugnahme, abweichen zu können.
  • So weit, so gut, aber ist damit auch die sogenannte Däubler-Kampagne erledigt, auf deren Initiative die Wirksamkeit der Tarifverträge der Zeitarbeit immer wieder bezweifelt worden ist bzw. nach wie vor wird? Bedauerlicherweise nicht.
  • Dr. Alexander Bissels, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei CMS Deutschland, hat einen aktuellen Artikel von Prof. Dr. Wolfgang Däubler zum Anlass genommen, um den aktuellen Stand zu analysieren.

Zunächst wird von Herrn Prof. Däubler in einem von ihm jüngst veröffentlichten Artikel die m. E. sehr gewagte Behauptung aufgestellt, dass ein Widerspruch der Entscheidung des BAG zum Urteil des EuGH auf der Hand liegen solle, nämlich aus folgenden Gründen (nachfolgend wörtlich):

„Nach der Entscheidung des EuGH muss der Tarifvertrag selbst die Kompensation vorsehen. Ob es im Gesetzesrecht eine unterschiedliche Behandlung für Leiharbeitnehmer und Stammbeschäftigte gibt, spielt keine Rolle. Deshalb kann man nicht auf § 11 Abs. 4 Satz 2 AÜG zurückgreifen.“

Anmerkung: Wäre diese Behauptung tatsächlich richtig, könnten die zwingend geltenden gesetzlichen Bestimmungen deklaratorisch abgeschrieben und in die Tarifverträge „überführt“ werden. Dass dies nicht richtig sein kann, ist offenkundig. Das gesetzliche und das tarifliche Regelwerk bilden eine Einheit, die auch als solche betrachtet werden muss. Abgesehen davon schließt der EuGH gerade nicht aus, dass gesetzliche Ausgleichsvorteile auch zugunsten von Zeitarbeitnehmern im Rahmen des Gesamtschutzes berücksichtigt werden dürfen.

„Der Kompensationsbedarf kann sehr unterschiedlich sein. Der eine verdient 10 Prozent, der andere 40 Prozent weniger als ein vergleichbarer Stammbeschäftigter. Kann die Weiterzahlung in den verleihfreien Zeiten wirklich beide Fälle erfassen? M.E. geht das nicht. Auch ist die Entgeltfortzahlung bei Menschen mit besonders geringen Löhnen gleichfalls niedrig; der größere Nachteil wird durch einen geringeren Vorteil „kompensiert“. Das überzeugt wenig.“

Anmerkung: Der EuGH sieht die Fortzahlung der Vergütung in überlassungsfreien Zeiten allgemein als (beachtlichen) Ausgleichsvorteil an. Eine Differenzierung nach der tatsächlichen Entgeltdifferenz erfolgt in diesem Zusammenhang gerade nicht.

„Der EuGH will jeden Fall konkret erfassen. Es fehlt daher an der Kompensation in all jenen Betrieben, in denen es keinen Tarifvertrag gibt, der für die Stammbeschäftigten von § 615 Satz 3 BGB abweicht. Hier liegt keine „Begünstigung“ des nicht beschäftigten Leiharbeitnehmers im Vergleich zum nicht beschäftigten Stammarbeitnehmer vor.“

Anmerkung: Hier werden Äpfel mit Birnen verglichen, denn das BAG hat sich gerade mit dem Fall befassen müssen, in dem ein Tarifvertrag tatsächlich zur Anwendung gekommen ist. Abgesehen davon gilt der Gleichstellungsgrundsatz vom ersten Tag des Einsatzes, wenn kein Tarifvertrag gilt. Ein Nachteil zu Lasten des Zeitarbeitnehmers, der durch einen Ausgleichsvorteil kompensiert werden müsste, besteht folglich gerade nicht.

„Das BAG differenziert nicht zwischen befristet und unbefristet tätigen Leiharbeitnehmern, obwohl dies die Richtlinie tut. Auch werden bei befristet beschäftigten Leiharbeitnehmern verleihfreie Zeiten sehr viel seltener auftreten.“

Anmerkung: Der EuGH lässt die Zahlung der Vergütung in überlassungsfreien Zeiten ausdrücklich bei unbefristeten und bei befristeten Arbeitsverhältnissen mit Zeitarbeitnehmern zu. Das BAG hat sich in diesem Zusammenhang nicht in Widerspruch zu dem Urteil des EuGH gesetzt, sondern – im Gegenteil – dieses gerade umgesetzt.

Dr. Alexander Bissels

Wie wahrscheinlich ist eine Revision des BAG-Urteils?

Herr Prof. Däubler hat sich zudem zu den Möglichkeiten geäußert, wie es – aus Sicht der vorgeblich benachteiligten Zeitarbeitnehmer – weiter gehen kann, um die aus dessen Sicht rechtsfehlerhafte Entscheidung des BAG vom 31.05.2023 einer erneuten (untechnisch gesprochen) Revision zu unterziehen.

Wörtlich heißt es in dem von Herrn Prof. Däubler veröffentlichten Artikel:

„Die eine [Anm.: Möglichkeit] besteht darin, dass ein Arbeitsgericht, das mit einem Leiharbeitsfall befasst ist, den EuGH einschaltet und ihn fragt, ob der zwingende Charakter der Betriebsrisikolehre wirklich eine Kompensation für alle Formen der Schlechterstellung bei der Vergütung ist. Wenn die Antwort – wie zu erwarten – negativ ausfällt, wäre das BAG-Urteil überholt.

Die zweite besteht darin, dass man nicht nur die Vergütung betrachtet, sondern auch alle anderen Benachteiligungen, die in den Leiharbeitstarifen enthalten sind. Das BAG hat nämlich in den letzten Sätzen seines Urteils noch auf einen Ausweg hingewiesen: Wenn Leiharbeitnehmer nicht nur beim Lohn, sondern auch noch bei anderen Leistungen wie dem Urlaub benachteiligt sind, reicht die Bezahlung der verleihfreien Zeit als Kompensation nicht mehr aus. Hier lebe entweder der Equal-Pay-Grundsatz wieder auf oder es müsse die (weitere) Benachteiligung durch das Gericht rückgängig gemacht werden, indem z.B. die volle Urlausdauer gewährt werde. Da die Leiharbeitstarife beim Urlaub, im Rahmen des § 616 BGB und auch in einer Reihe von anderen Punkten eine Schlechterstellung vorsehen, könnten hier aussichtsreiche Prozesse mit dem Ziel der Gleichbehandlung geführt werden.

Die dritte Möglichkeit ist keine juristische und eröffnet sich auch nur für „Fachkräfte“ im weiteren Sinn: Wo es wie z.B. in der Pflege große Nachfrage nach Arbeitskräften gibt, sind die Entleiher bereit, recht hohe Preise für jeden Leiharbeitnehmer zu bezahlen, der über die entsprechende Qualifikation verfügt. Dies kann dazu führen, dass Leiharbeitnehmer sogar besser stehen als Stammbeschäftigte, weil sie wegen ihrer Stellung auf dem Markt ein höheres Entgelt und oft sogar einen Schichtplan verlangen können, der ihren Bedürfnissen entspricht. Es wird in Zukunft voraussichtlich etwa 20% gut und übertariflich bezahlte Leiharbeitnehmer geben, während 80% in der bisherigen Misere verbleiben. Möglichkeit eins und Möglichkeit zwei sind daher unverzichtbar. Die Entwicklung wird weitergehen. Das BAG hat nicht das letzte Wort.“

Ob sich tatsächlich ein Arbeitsgericht finden wird, das – wie Herr Prof. Däubler in der ersten von ihm dargestellten Möglichkeit ausführt – im Rahmen eines auf die Zahlung von equal pay gerichteten Verfahrens bereit ist, erneut den EuGH anzurufen – mit der Begründung, dass das BAG dessen Entscheidung vom 15.12.2022 fehlerhaft umgesetzt hat, ist fraglich, aber nicht in Gänze auszuschließen. Im Zweifel muss ein passender Rechtsstreit bei einem entsprechend „motivierten“ Richter anlanden, der sich berufen fühlt, sich gegen das eindeutige, gut begründete und überzeugende Urteil des BAG zu stellen, und mit einer zu erstellenden Vorlage den EuGH anruft – eher unwahrscheinlich.

Die zweite von Herrn Prof. Däubler beschriebene Möglichkeit lässt sich rechtlich zumindest noch begründen, da das BAG über diesen Sachverhalt nicht entschieden hat. Der 5. Senat hat in der Entscheidung vom 31.05.2023 wie folgt ausgeführt:

„Genügt danach im Hinblick auf das Arbeitsentgelt die tarifliche Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung bei der vom Gerichtshof vorgegebenen konkreten „Prüfung in drei Schritten“ (EuGH 15. Dezember 2022 – C-311/21 – [TimePartner Personalmanagement] Rn. 49) den unionsrechtlichen Anforderungen des Art. 5 Abs. 3 RL 2008/104, kommt es im Streitfall nicht mehr entscheidungserheblich darauf an, ob die Tarifvertragsparteien hinsichtlich weiterer der in Art. 3 Abs. 1 Buchst. f RL 2008/104 definierten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen – Dauer der Arbeitszeit, Überstunden, Pausen, Ruhezeiten, Nachtarbeit, Urlaub und arbeitsfreie Tage – von der in Art. 5 Abs. 3 RL 2008/104 eröffneten Abweichungsmöglichkeit Gebrauch gemacht haben und die Klägerin davon betroffen gewesen sein könnte. Denn eine Ungleichbehandlung hinsichtlich weiterer wesentlicher Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen hat die Klägerin nicht streitgegenständlich gemacht und dazu in den Tatsacheninstanzen keinen substantiierten Sachvortrag gehalten. Das gilt auch, soweit sie zuletzt in der Revision pauschal auf einen höheren Jahresurlaub „nach § 12.1 MTV Einzelhandel“ hingewiesen hat, ohne allerdings darzulegen, aufgrund welcher Tatsachen sie, wäre sie unmittelbar bei der Entleiherin H&M angestellt gewesen, Anspruch auf eine längere Dauer ihres Jahresurlaubs gehabt hätte. Dass die Entleiherin […] ihre Stammkräfte nach dem für ihre Branche einschlägigen Tarifvertrag bezahlen soll, besagt nicht zwangsläufig, dass sie tarifgebunden wäre oder mit allen ihren Beschäftigten arbeitsvertraglich einen Jahresurlaub entsprechend der einschlägigen tariflichen Urlaubsregelung vereinbaren würde. Es bedarf deshalb keiner Entscheidung zu der – vom Gerichtshof in seinem Urteil vom 15. Dezember 2022 (- C-311/21 – [TimePartner Personalmanagement]) nicht erörterten – Frage, ob eine „an sich“ den Gesamtschutz der Leiharbeitnehmer iSd. Art. 5 Abs. 3 RL 2008/104 achtende Ungleichbehandlung beim Arbeitsentgelt durch eine weitere Ungleichbehandlung beim Urlaub dazu führen könnte, dass der Anspruch auf gleiches Arbeitsentgelt gleichsam wiederauflebt oder sich die Rechtsfolge in einem solchen Falle auf einen höheren Urlaubsanspruch beschränken würde.“

In dem vom BAG entschiedenen Fall ging es um die Zulässigkeit der Abweichung vom Entgelt durch die Anwendung der Tarifwerke der Zeitarbeit, also equal pay. Der 5. Senat hat in der Pflicht des Personaldienstleisters zur Zahlung der Vergütung in überlassungsfreien Zeiten (und zahlreichen weiteren den Zeitarbeitnehmer schützenden – gesetzlichen – Vorschriften) einen hinreichenden, vom EuGH verlangten „Ausgleichsvorteil“ gesehen, um eine Schlechterstellung des Zeitarbeitnehmers beim Entgelt im Vergleich zu einem Stammbeschäftigten im Betrieb des Kunden zu rechtfertigen. Nicht streitgegenständlich waren jedoch weitere wesentlichen Arbeitsbedingungen, z.B. der Urlaub. Die Klägerin in dem Gesamtschutzverfahren hat zu einer entsprechenden Schlechterstellung durch die Tarifverträge der Zeitarbeit nicht vorgetragen, sondern sich auf die Abweichung beim Entgelt konzentriert. Es ist folglich nicht ausgeschlossen, dass sich in einem noch anzustrengenden Verfahren ein Zeitarbeitnehmer aufschwingt und – neben einer für diesen nachteiligen Abweichung bei der Vergütung – zusätzlich eine solche insbesondere beim Urlaub substantiiert behauptet. In diesem Fall müsste das BAG entscheiden, ob die Pflicht zur Zahlung des Entgelts in überlassungsfreien Zeiten einen hinreichenden Ausgleichsvorteil auch mit Blick auf eine Schlechterstellung beim Urlaub darstellt. Dies ist m.E. der Fall, da der Zeitarbeitnehmer in überlassungsfreien Zeiten Urlaubsansprüche erwirbt und aufbauen kann. Hier bleibt die weitere Entwicklung abzuwarten, insbesondere ob sich tatsächlich Zeitarbeitnehmer finden, die nach der deutlichen Entscheidung des BAG zur grundsätzlichen Wirksamkeit der Tarifverträge der Zeitarbeit (erneut) – diesmal jedoch mit einem breiteren Begründungsansatz – eine Klage einreichen werden. Die Luft dürfte – zumindest erst einmal – raus sein.

Was genau Herr Prof. Däubler mit der dritten Möglichkeit aussagen möchte, ist nicht klar. Diese markiert – das erkennt er selber – zumindest keine juristische, sondern eine faktische (hinlänglich bekannte) Option für Zeitarbeitnehmer, in einigen Branchen sogar mehr zu verdienen als die Stammbeschäftigten, z.B. in der Pflege. Letztlich mögen dies aber die betroffenen bzw. in diesem Bereich beschäftigten Arbeitnehmer entscheiden, ob selbige als Stamm- oder als Zeitarbeitnehmer dort arbeiten möchten. Hier macht schlicht der Markt die Gesetze. Zumindest kann der Überlassungsbranche kein Vorwurf daraus gemacht werden, dass diese die Zeitarbeitnehmer im Vergleich zu den Stammbeschäftigten besserstellt. Die von Herrn Prof. Däubler ansonsten bemühte Argumentation zur Gleichstellungspflicht hilft in diesem Zusammenhang also nicht weiter. Diese ist – zumindest in der Pflege – regelmäßig (über-)erfüllt.

Interessant sind die Ausführungen von Herrn Prof. Däubler zur Möglichkeit der Einlegung einer Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des BAG vom 31.05.2023 – wörtlich:

„Was passiert, wenn ein nationales Gericht wie das BAG eine Entscheidung des EuGH einfach nicht umsetzt, sondern eine Lösung wählt, die im Widerspruch zu den Vorgaben des EuGH steht?

Dazu findet man in der juristischen Literatur nicht übermäßig viel, weil etwas Derartiges nur recht selten vorkommt. Einig ist man sich darüber, dass ein nationales Gericht nicht von einer Entscheidung des EuGH abweichen darf. Wenn es trotzdem anderer Ansicht ist als das höchste europäische Gericht, muss es diesem erneut die Fragen vorlegen, die seine abweichende Sicht rechtfertigen könnten. Es ist dann Sache des EuGH, darüber nachzudenken, ob wirklich eine unterschiedliche Auffassung vorliegt und ob er seine Position revidieren oder bestätigen will. Er hat immer das letzte Wort, weil nur dann die Einheitlichkeit des europäischen Rechts gesichert bleibt.

Was kann man tun, wenn das nationale Gericht es einfach bei der Abweichung belässt und nicht vorlegt? Meist wird es – wie in unserem Fall – den Standpunkt vertreten, in Wirklichkeit sei es dem EuGH gefolgt. Wie kann eine solche falsche Sicht der Dinge korrigiert werden?

Wenn ein nationales Gericht seiner Pflicht zur Vorlage nicht nachkommt, ist das Grundrecht des Einzelnen auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 GG verletzt. Er kann deshalb Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht einlegen, das schon in vielen Fällen Entscheidungen wegen Nichtvorlage aufgehoben hat. Auch könnte man damit argumentieren, dass es ein rechtsstaatswidriger Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit sei, wenn die Schlechterstellung eines Bürgers gegenüber anderen entgegen der Bindung an eine EuGH-Entscheidung erfolgt. Üblich ist jedoch nur die Berufung auf Art. 101 GG.

Im vorliegenden Leiharbeitsfall wären die Chancen einer Verfassungsbeschwerde sehr gut gewesen. Natürlich gibt es bei der Prognose, wie ein Gericht entscheiden wird, nie völlige Sicherheit, aber hier wäre die Wahrscheinlichkeit den Umständen nach sehr hoch gewesen, dass die Verfassungsbeschwerde Erfolg gehabt hätte. Zu offensichtlich ist die Abweichung von dem, was der EuGH gesagt hatte.“

Herr Prof. Däubler sieht also die (erfolgsversprechende) Möglichkeit, dass das BVerfG im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde angerufen werden kann, um die vorgeblich falsche, weil die Vorgaben des EuGH nicht richtig umsetzende Entscheidung des BAG aufzuheben.

Schon allein den mit diesen Aussagen verbreiteten „Zweckoptimismus“ hinsichtlich der Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde vermag man nicht so recht nachvollziehen, liegt eine Abweichung des BAG vom EuGH, die vor dem BVerfG angegriffen könnte, bereits nicht vor, schon gar nicht ist eine solche als „offensichtlich“ zu bezeichnen. Jedoch wird aus einer Verfassungsbeschwerde so oder so nichts, wie Herr Prof. Däubler weiter zu berichten weiß. Wörtlich:

„Weshalb ist kein Rechtsmittel eingelegt worden? Die betroffene Leiharbeitnehmerin wurde von Ver.di vertreten. Zunächst gingen die mit der Angelegenheit befassten Gewerkschaftsjuristen davon aus, dass die Verfassungsbeschwerde eingelegt wird; sie bereiteten auch eine eingehende Begründung vor (die dem Verf. vorliegt). Dann kam der Ukas von ganz oben: Wir legen die Geschichte zu den Akten, es wird keine Verfassungsbeschwerde geben. Wer da im Einzelnen entschied, ist nicht zu ermitteln; vermutlich war es der Ver.di-Vorstand. Der Betroffenen wurde vorher mitgeteilt, dass das Verfahren nicht fortgesetzt werde. Man hat sie nicht etwa gefragt, wie sie die Dinge einschätze und ob sie gerne weitergemacht hätte. Stattdessen wurde sie mit der höheren Vernunft konfrontiert, die man höheren Orts nach verbreitetem (Vor-)Urteil immer besitzt. Bei einer Verfassungsbeschwerde muss man außerdem eine Monatsfrist beachten und kann auch nicht etwa die Begründung nachreichen: Die Entscheidung durch Ver.di erging gegen Ende der Monatsfrist, so dass andere Leute nicht mehr in der Lage waren, mit der Betroffenen zu reden, sich eine Vollmacht zu holen und selbst einen Beschwerdetext zu erarbeiten.

Das schafft kein gutes Gewerkschaftsgefühl. Schreib doch einfach „Wer hat uns verraten? Gewerkschaftsbürokraten“, war der Kommentar von Freunden. Es fällt schwer, ihnen zu widersprechen.“

Damit wird sich Karlsruhe – zumindest auf Sicht – nicht mit dem Thema „Achtung des Gesamtschutzes“ befassen müssen bzw. können. Gegen die Entscheidung des BAG vom 31.05.2023 (Az. 5 AZR 143/19) ist nicht innerhalb der zu beachtenden Frist eine grundsätzlich mögliche Verfassungsbeschwerde eingereicht worden. Über die insbesondere für ver.di maßgeblichen Gründe kann nur spekuliert werden. Vielleicht war es schlichtweg die Erkenntnis, dass eine solche offensichtlich nicht erfolgreich gewesen wäre und man aus diesen Gründen Abstand von einer Verfassungsbeschwerde genommen hat. Lustlosigkeit oder mangelndes Engagement kann man ver.di sicherlich nicht vorwerfen, immerhin wurde der Ausgangsrechtsstreit durch immerhin drei Instanzen getrieben. Diese m.E. naheliegende Erklärung wird von Herrn Prof. Däubler nicht aufgenommen. Wie auch? Ist er doch davon überzeugt, dass das BAG offensichtlich falsch entschieden hat – ver.di hat die Frage für sich wohl anders bzw. abweichend beantwortet. Und das ist gut und richtig so!

Die weitere Entwicklung mit Blick auf die von Herrn Prof. Däubler dargestellten, verbleibenden Handlungsmöglichkeiten sind allerdings im Auge zu behalten. Nicht in Gänze auszuschließen ist jedenfalls, dass sich in diesem Zusammenhang doch noch Bewegung ergeben wird.

„Abwarten und Tee trinken“, dürfte es (leider) erst einmal heißen.


Dieser Artikel wurde von Dr. Alexander Bissels erstellt und zunächst im „Infobrief Zeitarbeit“ veröffentlicht.

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