„Streikbrecherverbot“ gilt (zunächst) uneingeschränkt weiter!
- Dr. Alexander Bissels, Partner bei CMS Hasche Sigle, und Kira Falter, Rechtsanwältin bei CMS Hasche Sigle, analysieren die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Februar 2018 zum „Streikbrecherverbot“ nach § 11 Abs. 5 AÜG
- Darin stellt das BVerfG klar, dass der Einsatz von Zeitarbeitnehmern auf Arbeitsplätzen bei einem Kunden, die von einem Streik betroffen sind, (vorerst) nicht zulässig ist
- Grund für die Entscheidung ist die Verfassungsbeschwerde einer bundesweit tätigen Kino-Betreiberin, die Zeitarbeitskräfte als sogenannte „Streikbrecher“ auf streikbetroffenen Arbeitsplätzen eingesetzt hat bzw. einsetzen wollte
Die AÜG-Reform 2017 ist beim BVerfG angekommen. Am 25. Februar 2018 hat das Gericht einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das Verbot, Zeitarbeitnehmer während eines Arbeitskampfes beim Kunden als „Streikbrecher“ einzusetzen (vgl. § 11 Abs. 5 S. 1, 2 AÜG), abgelehnt (Az. 1 BvR 842/17).
Das „Streikbrecherverbot“ im AÜG
§ 11 Abs. 5 S. 1 AÜG enthält in seiner neuen Fassung das Verbot, Zeitarbeitnehmer zu beschäftigen, wenn der Entleiherbetrieb unmittelbar durch einen Arbeitskampf betroffen ist. Eine Ausnahme gilt nach § 11 Abs. 5 S. 2 AÜG, wenn Zeitarbeitskräfte keine Tätigkeiten übernehmen, die bisher von Streikenden übernommen wurden. Die Verletzung der angegriffenen Regelungen ist nun zusätzlich bußgeldbewehrt (§ 16 Abs. 1 Nr. 8a, Abs. 2 AÜG: bis zu 500.000 EUR für den Kunden). Bei einem Verstoß von Personaldienstleistern gegen das Verbot drohen erlaubnisrechtliche Konsequenzen (z.B. Auflagen, Widerruf der Erlaubnis mangels Zuverlässigkeit gem. § 5 AÜG). Zeitarbeitskräfte dürfen also nicht auf mittelbar oder unmittelbar streikbetroffenen Arbeitsplätzen tätig werden, während der Betrieb des Kunden bestreikt wird. Der Gesetzgeber will mit der Bestimmung die Position von Zeitarbeitskräften stärken und eine missbräuchliche Einwirkung auf Arbeitskämpfe unterbinden (BT-Drucksache 18/9232, S. 27 f.).
Zum Fall, den das BVerfG zu entscheiden hatte:
Die Beschwerdeführerin ist Arbeitgeberin in der Unterhaltungsindustrie. Sie betreibt bundesweit Filmtheater. Im Jahr 2012 schlossen die Beschwerdeführerin und weitere Unternehmen der Unternehmensgruppe erstmals Mantel- und Entgeltfirmentarifverträge ab, die von der Gewerkschaft zum Ende des Jahres 2016 gekündigt wurden. Der im Januar 2017 geschlossene Entgelttarifvertrag wurde seitens der Gewerkschaft fristgemäß zum 28.02. 2019 gekündigt. Während der Arbeitskämpfe in den Jahren 2012 und 2017 setzte die Beschwerdeführerin auf den streikbetroffenen Arbeitsplätzen Leiharbeitskräfte ein.
Ungerechtfertigter Eingriff in die Unternehmerfreiheit?
Die Beschwerdeführerin hat Verfassungsbeschwerde erhoben und diese sodann mit einem Antrag auf einstweilige Anordnung verbunden. Sie rügt eine Verletzung von Art. 9 Abs. 3, Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG. Sie sei von der angegriffenen Norm unmittelbar und gegenwärtig betroffen, da Arbeitskämpfe zu erwarten seien, für die sie disponieren müsse. Ihr sei kein anderer Rechtsweg eröffnet, um sich zumutbar gegen das Verbot in § 11 Abs. 5 AÜG zur Wehr zu setzen. Die Regelung verletze sie in ihren Grundrechten. Das Verbot, auf Arbeitskampfmaßnahmen mit dem Einsatz von Zeitarbeitskräften zu reagieren, schränke sie in der Wahl der Kampfmittel und damit in der durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Betätigungsfreiheit als Koalition in unverhältnismäßiger Weise ein. Es handele sich um einen Eingriff in die Unternehmerfreiheit, der nicht durch das Allgemeinwohl gerechtfertigt sei.
Antragstellerin beantragt Aussetzung der Anwendung der Norm
Die Beschwerdeführerin hat beantragt, den Vollzug der Regelungen in Art. 1 Nr. 7b AÜGuaÄndG 2017 sowie § 11 Abs. 5 AÜG bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes auszusetzen. Dies sei zur Abwehr schwerer Nachteile dringend geboten. Da der geltende Tarifvertrag gekündigt sei, müsse sie zeitnah mit bundesweiten Arbeitskampfmaßnahmen der Gewerkschaft rechnen. Wenn sie aufgrund des Verbotes in § 11 Abs. 5 AÜG keine Zeitarbeitskräfte einsetzen könne, bestünde die Gefahr einer irreversiblen Grundrechtsverletzung. Sie sei dann gezwungen, sich aufgrund der gestörten Arbeitskampfparität dem Druck des Streiks zu beugen. Aussperrung oder Stilllegung könnten dessen wirtschaftliche Folgen nicht abmildern, die wiederum unvorhersehbar und daher nicht zu beziffern seien. Jedenfalls sei mit einer Gefährdung ihrer Existenz zu rechnen. Auch die betroffenen Zeitarbeitnehmer würden durch die Regelung in ihren Grundrechten verletzt. Werde die Norm vorübergehend ausgesetzt, ergäben sich keine erheblichen Nachteile; die Verwirklichung der vom Gesetzgeber verfolgten Ziele würde nur für einen kurzen Zeitraum in die Zukunft verschoben.
Der Gerichtsbeschluss im Wortlaut:
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wurde vom BVerfG abgelehnt. Die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG lägen nicht vor. Der Eilantrag sei jedenfalls unbegründet. Wörtlich führt das Gericht aus:
„Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Entscheidung über die einstweilige Anordnung haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die in der Hauptsache begehrte Feststellung oder der in der Hauptsache gestellte Antrag erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht dann im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Antrag in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre.
Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsrechtlichen Verfahren auslöst, gilt für die Beurteilung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab. Soll der Vollzug eines Gesetzes ausgesetzt werden, erhöht sich diese Hürde noch, denn das Bundesverfassungsgericht darf von seiner Befugnis, den Vollzug eines Gesetzes auszusetzen, nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch machen, weil dies einen erheblichen Eingriff in die originäre Zuständigkeit des Gesetzgebers darstellt. Müssen die für eine vorläufige Regelung sprechenden Gründe schon im Regelfall so schwer wiegen, dass sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung unabdingbar machen, so müssen sie im Fall der begehrten Außervollzugsetzung eines Gesetzes darüber hinaus besonderes Gewicht haben. Insoweit ist von entscheidender Bedeutung, ob die Nachteile irreversibel oder nur sehr erschwert revidierbar sind, um das Aussetzungsinteresse durchschlagen zu lassen.
Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit sie das sogenannte „Streikbrecherverbot“ in § 11 Abs. 5 Satz 1 und 2 AÜG betrifft, weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Eine Verletzung der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Koalitionsfreiheit sowie der durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten beruflichen und wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit der Beschwerdeführerin ist jedenfalls nicht von vornherein offensichtlich ausgeschlossen. Die Frage, ob sich sogenannte „Außenseiter-Arbeitgeber“ in Tarifauseinandersetzungen um Firmentarifverträge auf die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Freiheit in der Wahl der Arbeitskampfmittel berufen können (hierzu BAG, Urteil vom 14. August 2018 - 1 AZR 287/17), ist verfassungsrechtlich nicht geklärt. Auch die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Regelungen ist umstritten (kritisch Aszmons/Homborg/Gerum, DB 2017, S. 726 <729>; Bauer/Haußmann, NZA 2016, S. 803 <804 f.>; Boemke, ZfA 2017, S. 1 <3 ff.>; Henssler, RdA 2016, S. 18 <24>; Franke, in: Assistententagung im Arbeitsrecht 2017, S. 143 <158 f.>; Lembke, NZA 2017, S. 1 <11>; Motz, in: BeckOK ArbR, 50. Ed., § 11 AÜG, Rn. 41; Schüren, in: Schüren/Hamann, Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, 5. Aufl. 2018, § 11 AÜG Rn. 172 ff.; Wank, in: ErfK, 19. Aufl. 2019, § 11 AÜG Rn. 21; anders Beckerle, in: Assistententagung im Arbeitsrecht 2017, S. 121 <126 f.>; Deinert, RdA 2017, S. 65 <78>; Klein/Leist, SR 2017, S. 31 <33 ff.>).
Die dann zur Entscheidung über die einstweilige Anordnung vorzunehmende Folgenabwägung ergibt, dass eine vorläufige Aussetzung des Vollzugs der angegriffenen Vorschrift nicht geboten ist. Es kann nicht festgestellt werden, dass die Gründe, die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechen, dem Interesse des Gesetzgebers an der Fortgeltung der Norm eindeutig überwiegen.
Ohne den Erlass einer einstweiligen Anordnung bliebe § 11 Abs. 5 AÜG bis zur abschließenden Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde anwendbar. Der Beschwerdeführerin wäre es dann, falls ihre Verfassungsbeschwerde Erfolg hat, zu Unrecht zeitweilig verwehrt, während eines Streiks Leiharbeitskräfte auf unmittelbar streikbetroffenen Arbeitsplätzen einzusetzen.
Erginge die beantragte einstweilige Anordnung und erwiese sich das angegriffene Gesetz später als verfassungsgemäß, so würde damit im Fall von Arbeitskämpfen bei der Beschwerdeführerin und darüber hinaus für diesen Zeitraum verhindert, dass der vom Gesetzgeber bezweckte Schutz von Leiharbeitskräften und die angestrebte Arbeitskampfparität erreicht würden.
Es sind keine Nachteile der Beschwerdeführerin von so großem Gewicht erkennbar, dass sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung dennoch rechtfertigen könnten. Es ist nicht dargelegt, dass es nach Beendigung des aktuellen Tarifvertrags mit hinreichend hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Arbeitskampf mit Arbeitsniederlegungen kommt. Zudem ist nicht ersichtlich, warum es der Beschwerdeführerin nicht möglich sein sollte, im Falle einer Arbeitsniederlegung den Betrieb ohne den Einsatz von Leiharbeitskräften fortzuführen. Sie hat die Möglichkeit, eigene arbeitswillige Arbeitskräfte oder zu diesem Zweck befristet eingestellte Kräfte oder aber Drittpersonal im Rahmen eines Werkvertrags mit anderen Unternehmen („Outsourcing“) einzusetzen. Selbst wenn dies nicht gelänge, ist nicht erkennbar, dass derart schwere oder gar existenzgefährdende wirtschaftliche Nachteile eintreten würden, die eine Aussetzung eines Gesetzes rechtfertigten. Die Beschwerdeführerin bezieht sich selbst auf unvorhersehbare und nicht zu beziffernde Folgen. Soweit sie vorträgt, die wirtschaftlichen Folgen eines Streiks seien nicht mit dem Mittel der Abwehraussperrung oder der suspendierenden Betriebsstilllegung abzumildern, fehlen konkrete Ausführungen zum Ausmaß und zur Irreversibilität der Nachteile des Einsatzes dieser Instrumente im Arbeitskampf.
Auch die von der Beschwerdeführerin angeführten Nachteile für die betroffenen Leiharbeitskräfte können eine einstweilige Anordnung nicht tragen. Im Fall der Fortgeltung von § 11 Abs. 5 AÜG wären Einsätze als „Streikbrecher“ verboten. Dies wirkt sich jedoch nicht unmittelbar auf das Leiharbeitsverhältnis zwischen Verleiher und Leiharbeitskraft aus. Es ist auch nicht vorgetragen, dass die angegriffene Regelung Arbeitsplätze in der Leiharbeitsbranche ernsthaft gefährden würde.“
Fazit
Das BVerfG hat mit der vorliegenden Entscheidung nicht die Verfassungskonformität von § 11 Abs. 5 S. 1, 2 AÜG bestätigt (oder negiert), sondern aufgrund der im Rahmen der einstweiligen Anordnung zu treffenden Abwägung lediglich festgestellt, dass die von der Beschwerdeführerin vorgetragenen Erwägungen nicht hinreichend waren, um das Pendel eindeutig zu deren Gunsten und damit zu Gunsten des Erlasses der begehrten einstweiligen Anordnung ausschlagen zu lassen, nach der § 11 Abs. 5 S. 1, 2 AÜG zunächst hätte unangewendet bleiben müssen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Anforderungen an eine einstweilige Anordnung, die zur Aussetzung eines Gesetzes führen kann, außerordentlich hoch sind und das Gericht sehr streng prüft.
Das BVerfG hat jedoch klar eine Grundrechtsbetroffenheit der Beschwerdeführerin bestätigt und ergänzend formuliert, dass die Verfassungsbeschwerde „weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet ist“. Es bleibt also das Hauptsacheverfahren, nämlich die eingelegte Verfassungsbeschwerde, und dessen Ergebnis abzuwarten, ob der Gesetzgeber durch die in der Tat eingriffsintensive Regelung in § 11 Abs. 5 S. 1, 2 AÜG seine Entscheidungsprärogative überdehnt und damit in nicht gerechtfertigter Art und Weise grundrechtlich geschützte Positionen verletzt hat. Karlsruhe dürfte sich die Entscheidung nicht leicht machen – dies ist aus dem vorliegenden Beschluss bereits ersichtlich.
Die unmittelbare Konsequenz des Beschlusses des BVerfG ist, dass § 11 Abs. 5 S. 1, 2 AÜG weiter anzuwenden ist. Das strenge „Streikbrecherverbot“ von Zeitarbeitnehmern bei einem Arbeitskampf im Betrieb des Kunden gilt also (zunächst) uneingeschränkt weiter.
Den Beschluss des BVerfG vom 25.02.2018 können Sie hier im Volltext abrufen.
Dieser Beitrag wurde von Dr. Alexander Bissels sowie von Kira Falter erstellt und erschien zuerst im Infobrief Zeitarbeit von März 2019.
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