29.11.2022 Redaktion arbeitsblog

Kompromissbereitschaft als Ausweg aus dem Fachkräftemangel (Teil 2)

  • Der Fachkräftemangel ist in aller Munde und beschäftigt auch die Personaldienstleistungsbranche stark.
  • Nicht nur die Branche selbst, auch Stimmen aus der Politik werden lauter. Ideen müssen her, um die hohe Zahl an benötigten Fachkräften in Deutschland in Zukunft decken zu können.
  • Wir haben mit Wirtschaftsexperte Prof. Dr. Lutz Bellmann vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) darüber gesprochen, welche Ansatzpunkte die Lücke an Fachpersonal aus seiner Sicht erfolgversprechend schließen und was sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer tun können.

arbeitsblog: Die Branche und Teile der Politik fordern schon seit längerem ein modernes Einwanderungsgesetz nach dem Vorbild Kanadas oder Neuseelands. Einreise, Aufenthalt und Arbeitserlaubnis für (Fach-)Kräfte aus Drittstaaten sollen erleichtert werden. Wie viel Potenzial steckt Ihrer Meinung nach in dieser Strategie – sowohl kurzfristig als auch auf lange Sicht?

Lutz Bellmann: Das IAB erstellt regelmäßig eine Prognose über den Arbeitskräftebedarf, die besagt, dass aufgrund des demografischen Wandels bis zum Jahr 2035 das sogenannte Erwerbspersonenpotenzial um sieben Millionen Personen sinken würde, wenn wir keine Zuwanderung hätten und die Erwerbsquoten der Frauen und der Älteren nicht weiter steigen würden. Der bevorstehende Ruhestand der geburtenstärkeren Jahrgänge zieht gravierende Probleme für das Wirtschaftswachstum, für den gesamten Wirtschaftsstandort nach sich. Denn Betriebe, die aus dem Ausland kommen, gehen unter Umständen nicht nach Deutschland oder in bestimmte Regionen Deutschlands. Das hat natürlich auch für den Sozialstaat gravierende Folgen, da beispielsweise die Rentenversicherung auf dem Umlageprinzip beruht. Das funktioniert nicht ohne Weiteres, wenn die arbeitende Bevölkerung schrumpft. Um dieses Erwerbspersonenpotenzial konstant zu halten, sind mehrere Strategien wichtig: Das eine ist eine höhere Beteiligung von Frauen und Älteren am Erwerbsleben, die in den letzten Jahren übrigens bereits deutlich zugenommen hat. Auch gilt es, durch verstärkte Bemühungen bei der Aus- und Weiterbildung bislang ungenutzte Potenziale zu erschließen. Der Abbau der Arbeitslosigkeit trägt ebenfalls zur Linderung der Arbeitskräfteknappheit bei. Neben diesen inländischen Potenzialen geht es aber auch um Zuwanderung. Wir brauchen eine jährliche Nettozuwanderung von 400.000 Menschen. Wenn man die Jahre 1991 bis 2021 betrachtet, waren es im Jahresdurchschnitt 270.000. Hier sind die großen Migrationswellen aufgrund der Fluchtmigration schon mit eingerechnet. Insgesamt ist das aus meiner Sicht ein wirklich dickes Brett, das gebohrt werden muss, wenn man an das Thema Fachkräfteeinwanderung denkt. Es muss Möglichkeiten geben, dass Menschen außerhalb der EU einfacher nach Deutschland kommen können, um hier erwerbstätig werden zu können. Das ist natürlich nicht nur Sache der Bundesregierung und der entsprechenden Ministerien, sondern auch der Länder, die bei bestimmten Bereichen für die Anerkennung von ausländischen Abschlüssen zuständig sind. Bei dem Thema Einwanderung gibt es glücklicherweise demnächst Bewegung: Die Bundesregierung hat ja bereits die Eckpunkte für eine Reform des Einwanderungsrechts formuliert. Es soll eine sogenannte Chancenkarte mit den Kriterien Qualifikation, Sprachkenntnisse, Berufserfahrung und Deutschlandbezug geben.

arbeitsblog: Also ähnlich dem Punktemodell in Kanada, das sich auch auf die Aspekte Sprachkenntnisse, vorheriger Aufenthalt, Qualifikation usw. bezieht?

Lutz Bellmann: Genau. Natürlich muss man sehen, was hier tatsächlich beschlossen wird. Und ich als Wissenschaftler hätte gern ein sorgfältiges Evaluationsergebnis über den Erfolg eines solchen modernen Einwanderungsgesetzes. Ein entscheidender Punkt ist die Anerkennung eines Abschlusses oder einer Qualifikation, die im Ausland erworben wurden. Wichtig sind dabei auch Instrumente wie Valikom, mit dem wir Kompetenzen, die im Ausland erworben wurden, feststellen und anerkennen können.

arbeitsblog: Einige der offenen Stellen hätten durch passend qualifizierte Arbeitslose besetzt werden können. Deshalb ist die Weiterbildung von geringqualifizierten Arbeitskräften eine Herausforderung, der sich Personal­dienstleister in Zeiten des Fachkräftemangels verstärkt stellen und als Erweiterung ihres Geschäftsmodells für sich entdecken. Laut BAP-Präsident Sebastian Lazay gebe es den perfekten Bewerber immer seltener, sodass Learning on the Job zunehmend an Bedeutung gewinne. Die dringende Notwendigkeit einer umfassenden Qualifizierungsoffensive wird deutlicher denn je. Welche Rolle spielt dabei Ihrer Meinung nach das 3-Stufen-Qualifizierungsmodell des BAP, mit dem der Verband seit einigen Jahren eine Möglichkeit bietet, Zeitarbeitskräfte ohne abgeschlossene Berufsausbildung in den Bereichen Lager und Logistik, Maschinen- und Anlagenführung sowie Dialogmarketing berufsbegleitend vom Helfer zur zertifizierten Fachkraft weiterzubilden? Liegt darin vielleicht einer der Lösungsansätze, den Personaldienstleister verfolgen sollten?

Lutz Bellmann: Dieses 3-Stufen-Qualifizierungsmodell finde ich sehr spannend. Es ist wirklich interessant, weil ein mehrstufiges Verfahren bis zum Abschluss als Fachkraft vorgesehen ist, und in Zusammenarbeit mit dem TÜV Rheinland sowie mit den entsprechenden IHKs Prüfungen abgelegt werden. Um ein Zertifikat von Wert zu schaffen, ist es wichtig, dass nicht nur Arbeitgeber, sondern unabhängige Stellen die Qualifikation zertifizieren. Ganz generell ist es so, dass wir in Deutschland Fachkräfte weiter- und umqualifizieren müssen sowie erwerbsqualifizierende Abschlüsse und weiterführende Qualifikationen mehr denn je benötigen. Es gibt also Einiges zu tun! Die Zahlen unseres Betriebspanels von 2001 bis 2019 belegen einen starken Anstieg an Weiterbildungsangeboten: Während im Jahr 2001 36 Prozent der Unternehmen ihre Mitarbeitenden gefördert haben, indem sie Lehrgangskosten übernommen haben oder eine Weiterbildung während der Arbeitszeit ermöglichten, waren es 2019 bereits 55 Prozent. 2020 und 2021 gab es im Zusammenhang mit der Coronapandemie aufgrund erforderlicher Sparmaßnahmen und strenger Hygienevorschriften bei Präsenzveranstaltungen dann wieder einen Absturz auf 34 Prozent. Bei den Personen mit Hochschulabschluss ging die Zahl von 45 auf 20 Prozent zurück, bei einfach Qualifizierten sogar von 20 auf sechs Prozent. Die Angebote für die, die sie am nötigsten bräuchten, sind also am stärksten zurückgegangen. Dadurch wird die Schere zwischen hoch- und weniger qualifizierten Arbeitskräften noch größer. Der coronabedingte starke Rückgang bei Präsenzveranstaltungen konnte nur teilweise durch eLearning-Angebote aufgefangen werden. Corona war aber schon ein Booster für eLearning. Immerhin zwei Drittel der Betriebe, die ihre Weiterbildungsangebote reduzierten, haben dafür mehr im eLearning-Bereich gemacht, doch in der Summe konnte das Niveau von 2019 dennoch nicht erreicht werden. Ich denke, es spricht vieles dafür, zukünftig Präsenzlernen und eLearning verstärkt zu verknüpfen.

In der näheren Zukunft ist leider noch nicht zu erwarten, dass das Pendel wieder vollständig zurückschlägt und Vorkrisenniveau an betrieblicher Weiterbildung erreicht wird. Die Entwicklung wird sich also erst nach der Rezession, im Laufe der darauffolgenden Jahre erholen. Zu bedenken ist hier auch, dass wenn Weiterbildungseinrichtungen in der Krisenzeit Personal abgebaut haben, sie nicht unmittelbar nach der Krise wieder im gleichen Umfang Personal zurückgewinnen können. Insofern dauert es eine gewisse Zeit, bis man diese Strukturen wieder aufbaut.

Das alles heißt natürlich nicht, dass der Vorschlag eines Qualifizierungsmodells ähnlich dem des BAP schlecht ist. Lediglich die praktische Umsetzung gestaltet sich etwas schwieriger, wenn man solch ein Modell auch auf andere Bereiche ausdehnen würde, was im Prinzip eine sinnvolle Sache ist. Es ist nicht ganz einfach, aber sehr wünschenswert, in genau diese Richtung weiterzugehen.

arbeitsblog: Andrea Nahles, Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA) und ehemalige Bundesministerin für Arbeit und Soziales, betonte in ihrer Keynote beim Arbeitgebertag Zeitarbeit 2022 die „ganz wesentliche gemeinsame Schnittstelle“ der Bundesagentur für Arbeit und der Zeitarbeit: „Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren, denen der Zugang dorthin oftmals schwerfällt." Wie sehen Sie die Rolle der Zeitarbeit bei der Bewältigung aktueller und zukünftiger Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft?

Deutschland ist ein reiches Land und kann viel machen, deshalb sollte man den Menschen Chancen bieten, wenn es irgendwie geht.

– Prof. Dr. Lutz Bellmann

Prof. Dr. Lutz Bellmann

Lutz Bellmann: Frau Nahles bezieht sich mit dem, was sie sagt, auf Personen, die aus vielen Gründen Schwierigkeiten haben, Zugang zum Arbeitsmarkt zu finden. Bei jungen Menschen ist das oft so, bei Frauen, die längere Zeit aus dem Erwerbsleben ausgeschieden waren, bei Menschen, die lange erkrankt waren oder Behinderungen aufweisen. Wer schon länger arbeitslos ist, hat es besonders schwer, wieder eine Stelle zu finden, und wer aus dem Ausland kommt und dessen Deutsch noch nicht gut ist, hat es am Arbeitsmarkt auch schwer. Ich denke, all jene sollten verstärkt in den Blick genommen werden. Festzuhalten ist außerdem, dass diese Menschen auch wirklich in den Arbeitsmarkt wollen, weil es ihnen in vielerlei Hinsicht hilft, wenn sie besser in die Gesellschaft integriert sind.

Unsere Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger betont übrigens den Integrationswillen der geflüchteten Menschen ebenfalls. Zwar gehen einige, die im Rahmen der Fluchtmigration nach Deutschland kommen, wieder in ihre Heimat zurück, wenn sich die Situation dort verbessert. Ein bedeutender Teil der Migranten nutzt aber auch die Möglichkeiten, die sich ihnen in anderen Ländern bieten, in längerer Frist. Insofern ist es wichtig, an dieser Stelle qualitativ hochwertige Angebote zu machen und die Menschen zu unterstützen, diese auch in Anspruch zu nehmen.

arbeitsblog: Damit Fachkräfte aus dem Ausland nicht wieder in ihre Heimat abwandern?

Lutz Bellmann: Oder in andere Länder. Wobei beides natürlich völlig legitim ist.

Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang auch, dass es oft längere Zeit erfordert, bis sie Fachkräfte sind. Es geht ja zum Teil um junge Menschen, die gerade als Schüler nach Deutschland gekommen sind. Sie müssen Abschlüsse machen, weiterführende berufliche Bildung oder auch Hochschulbildung in Anspruch nehmen. Dafür ist ein langer Atem erforderlich, aber ein guter Teil der Menschen wird diesen Weg erfolgreich bewältigen. Deutschland ist ein reiches Land und kann viel machen, deshalb denke ich, man sollte den Menschen diese Chancen bieten, wenn es irgendwie geht.

arbeitsblog: Laut Joschka Fischer, Bundesaußenminister und Vizekanzler a.D., „müssen wir aufholen in der Digitalisierungsfrage und uns nicht abhängen lassen. Sonst zahlt Deutschland dafür im 21. Jahrhundert einen bitteren Preis." Wie wichtig wird das Thema Digitalisierung Ihrer Meinung nach beim Schließen der Fachkräftelücke sein?

Lutz Bellmann: Digitalisierung, Rationalisierung und Automatisierung helfen natürlich dabei, die Produktivität zu erhöhen. Viele Betriebe setzen auf Roboter, weil sie das Potenzial haben, Arbeitnehmer zu entlasten und Raum für andere wertschöpfende Tätigkeiten zu schaffen. Arbeitnehmer können so produktiver werden. Das ist zudem häufig auch aus ergonomischen Aspekten vorteilhaft. Die Anschaffung von Robotern ist allerdings teuer. Das war natürlich in der Boomphase, die wir bis zur Krise erlebt haben, durch die niedrigen Zinsen wesentlich leichter, als es jetzt in der nächsten Zeit zu erwarten ist.

arbeitsblog: Wir haben ja schon gehört, dass es einige Dinge zu beachten gilt, wenn man Kräfte aus dem Ausland holt, wobei das inländische Potenzial auch hoch ist. Bei der Lösung des Fachkräftemangels spielen also mit Sicherheit viele Aspekte eine Rolle.

Lutz Bellmann: Ja. Es gibt viele Ansätze, und wir müssen sie auch kombinieren, weil es nicht den einen Königsweg gibt, der alle Probleme löst. Umso mehr kommt es darauf an, neue Wege zu beschreiten. Im Bereich der Digitalisierung kann ich Ihnen hierfür ein schönes Beispiel nennen. Bei Audi haben die Azubis alle Laptops, die sie dann überall mit hinnehmen können. So lassen sich zum Beispiel ortsunabhängig Lerninhalte nachschlagen. Das ist natürlich schon toll, weil das im Theoretischen Gelernte vertieft wird, beispielsweise mithilfe von Videos über bestimmte praktische Tätigkeiten. Insofern ist die Nutzung von digitalen Tools super, das kann man schon sagen. Aber es ist natürlich nicht jedem Unternehmen möglich, alle Auszubildenden oder gar alle Mitarbeitenden mit solchen Geräten auszustatten. Die Systeme aufzubauen ist ebenfalls kompliziert, da erst einmal die ganzen Informationen hinterlegt werden müssen.

arbeitsblog: Digitalisierung und mobile Geräte werden von vielen jungen Kräften gefordert. Allerdings handelt es sich bei Audi um eine ganz andere Größenordnung, auch finanziell, als das bei vielen anderen Unternehmen der Fall ist.

Lutz Bellmann: Ja, das muss man auch immer im Hinterkopf behalten.

arbeitsblog: Herr Bellmann, vielen Dank für die Beantwortung der Fragen! Haben Sie denn noch einen Punkt zum Thema, der Ihnen wichtig wäre, den Sie unseren Lesern gern weitergeben würden?

Lutz Bellmann: Meiner Ansicht nach ist es ein großer Verdienst der Personaldienstleister, dass die regionalen Ungleichgewichte mithilfe überregionaler Unternehmen in der Branche gemindert werden können. Wenn Sie auf die Deutschlandkarte schauen, gibt es doch große Ungleichgewichte, was die offenen Stellen und die Stellensuchenden angeht. Diese beiden Pole zusammenzubringen, ist sehr wertvoll. Damit wird der Mehrwert der Personaldienstleistung für den deutschen Arbeitsmarkt noch einmal in aller Form deutlich.


Prof. Dr. Lutz Bellmann

Lutz Bellmann war von 2009 bis 2021 Lehrstuhlinhaber für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Arbeitsökonomie, an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Außerdem ist er seit Anfang dieses Jahres Professor an der Nikolaus-Kopernikus-Universität im polnischen Torún. Bereits seit 1988 ist Bellmann beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) tätig, wo er 25 Jahre lang das IAB-Betriebspanel leitete sowie die zweijährige Studie „Betriebe in der Covid 19-Krise“.

https://www.iab-forum.de/autor/prof-dr-lutz-bellmann/

 

Vorschau: Im ersten Teil unseres Specials rund um das Thema Fachkräftemangel sprachen wir mit Prof. Dr. Bellmann über Herausforderungen am Arbeitsmarkt, Anforderungen an Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie über den Fachkräftemangel in der Pflegebranche.

Kontakt

0911974780 info@kontext.com