Kompromissbereitschaft als Ausweg aus dem Fachkräftemangel (Teil 1)
- Der Fachkräftemangel ist in aller Munde und beschäftigt auch die Personaldienstleistungsbranche stark.
- Nicht nur die Branche selbst, auch Stimmen aus der Politik werden lauter. Ideen müssen her, um die hohe Zahl an benötigten Fachkräften in Deutschland in Zukunft decken zu können.
- Wir haben mit Wirtschaftsexperte Prof. Dr. Lutz Bellmann vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) darüber gesprochen, welche Ansatzpunkte die Lücke an Fachpersonal aus seiner Sicht erfolgversprechend schließen und was sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer tun können.
arbeitsblog: Laut Studie des Instituts für deutsche Wirtschaft Köln (IW) fehlten zwischen Juli 2021 und Juli 2022 in allen Berufsgruppen über eine halbe Million Fachkräfte. Die Coronakrise, der Ukraine-Krieg und der demografische Wandel haben einen großen Teil dazu beigetragen. Doch politische Stimmen, wie beispielsweise der parlamentarische Geschäftsführer der FDP, Johannes Vogel, nimmt die Branche selbst in die Verantwortung. Seine Behauptung: Viele Arbeitgeber hätten in der Vergangenheit keine attraktiven Bedingungen für ihre Arbeitskräfte geschaffen, was mit ein Grund für den Fachkräftemangel sei. Welche Aspekte sind Ihrer Meinung nach maßgeblich dafür verantwortlich?
Lutz Bellmann: Herr Vogel, der ja früher auch bei der Bundesagentur für Arbeit war, jetzt Bundestagsabgeordneter ist und wichtige Funktionen in der FDP-Bundestagsfraktion wahrnimmt, hat da schon einen Punkt. Sicherlich interessant ist in diesem Zusammenhang das IAB-Betriebspanel, eine Befragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, bei der wir die Betriebe nach den Gründen für die Besetzungsschwierigkeiten bei Neueinstellungen gefragt haben. Hier gab es vier Auswahlmöglichkeiten, und alle vier sind aus Sicht der Arbeitgeber von hoher Relevanz:
- Zu wenig Bewerber
- Unzureichende Qualifikationen der Bewerber
- Zu hohe Lohn- und Gehaltsforderungen
- Fehlende Bereitschaft der Arbeitssuchenden, die Arbeitsbedingungen zu erfüllen
Ich denke, sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer könnten hier noch etwas mehr tun: Die Bewerber müssten etwas flexibler sein, was die Wahl der Ausbildungsrichtung oder eines Studienfachs angeht und sich nicht zu sehr auf eine Tätigkeit oder ein bestimmtes Unternehmen festlegen. Sicherlich ist ein Studium heutzutage sehr gefragt bei jungen Leuten, aber wir haben auch hohe Abbruchquoten. Insofern ist es wichtig, dem Nachwuchs so früh wie möglich Studienorientierung und Studienberatung zu bieten. Die Betriebe wiederum müssen sich darauf einstellen, dass Fachkräfte heute knapper sind als noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Da muss man bei den Löhnen oder Arbeitsbedingungen als Betrieb flexibler sein als früher. Es ist also nicht falsch, was Herr Vogel sagt, aber man kann seine Aussage natürlich ergänzen.
arbeitsblog: Viele der vom Fachkräftemangel betroffenen Branchen wie Kinderbetreuung und -erziehung sowie Alten- und Gesundheits- oder Krankenpflege sind stark nach Geschlecht segregiert. War diese Entwicklung absehbar? Wie können Personaldienstleistungsunternehmen hier Abhilfe schaffen?
Lutz Bellmann: Die Arbeitsbedingungen im Gesundheits- und Pflegebereich sind teilweise nicht attraktiv für die Beschäftigten. Verbesserungen zu ihren Gunsten sind dringend geboten, um Arbeitskräfte für diese Bereiche zu gewinnen und auch dort zu halten. Personaldienstleister können an dieser Stelle natürlich helfen, Fachkraftlücken zu schließen. Für einzelne Arbeitgeber ist es immer schwierig, Sonderregelungen zu vereinbaren. Auch wenn nachvollziehbar ist, dass Pflegekräfte beispielsweise vereinzelt aus dem Schichtdienst herausgenommen werden wollen, haben Arbeitgeber manchmal Schwierigkeiten, das umzusetzen. Bei Personal, das über Zeitarbeitsfirmen vermittelt wird, gibt es Beispiele, in denen das leichter gelingt. Ein Teil der Funktion von Personaldienstleistern besteht darin, in schwierigen Situationen als Makler zu fungieren und Brücken zu bauen.
Unabhängig von der Branche gibt es in kleineren Betrieben zum Teil keine professionelle Personalarbeit, während mittlere und größere Betriebe hier in der Regel zwar sehr professionell aufgestellt sind, allerdings dennoch Probleme mit der Fachkräfterekrutierung haben. Wenn dann womöglich sogar die Fachkräfte in der Personalabteilung knapp sind, erhöht das die Gefahr, dass man als Betrieb nicht immer in dem Umfang, wie man es möchte, auf die einzelnen Beschäftigten zugehen und in begründeten Fällen entsprechende Sonderregelungen finden kann. Das ist mit Sicherheit ein weites Feld für Personaldienstleister.
arbeitsblog: Aktuell steht ja zur Diskussion, ob die Zeitarbeit im Pflegebereich verboten werden soll, weil immer mehr Festangestellte aufgrund der besseren Arbeitsbedingungen in der Zeitarbeit dorthin abwandern. Was sagen Sie dazu?
Lutz Bellmann: Hier habe ich recherchiert, ob es empirische Befunde gibt, die diese anekdotische Evidenz auch erhärten, doch dazu habe ich bislang nichts wirklich Belastbares gefunden. Insofern würde ich hier gern erst einmal gesicherte Zahlen sehen, ob das denn auch wirklich ein so bedeutsames Phänomen ist. Die Kunst bei der Besetzung von schwierig zu besetzenden Stellen besteht heutzutage ganz generell darin, dass beide Seiten etwas über ihren Schatten springen und aufeinander zugehen. Jemand Dritten zu haben, der Brücken baut, kann dabei hilfreich sein. Kompromissbereitschaft ist gefragt. Aus meiner langjährigen Erfahrung kann ich sagen, dass oft schon kleinere Änderungen Erfolg bringen. Die Personaldienstleistung bringt viel Erfahrung mit schwierigen Situationen mit, die akut auftreten können. Bei der hohen Zuwanderung geflüchteter Menschen aus Syrien 2015 zum Beispiel konnten viele Betriebe nicht so schnell reagieren, wie es für die Integration der Geflüchteten wünschenswert gewesen wäre. Die Personaldienstleistungs-Firma I. K. Hofmann aus Nürnberg hat sich den Erfordernissen sehr engagiert angenommen, auch Manpower hat da viel Mühe investiert und bei Großunternehmen wie Daimler umfangreiche Projekte in Gang gebracht, um Geflüchtete zu beschäftigen. Das hätten die meisten Unternehmen selbst gar nicht so schnell und fundiert machen können. Es gibt also zahlreiche Beispiele dafür, dass Personaldienstleister Personalabteilungen besonders in schwierigen Situationen, in denen viele Aspekte zu berücksichtigen und zusätzliche Kapazitäten notwendig sind, gut unterstützen können.
Arbeitnehmer wie Arbeitgeber müssen aufeinander zugehen und über ihren Schatten springen.
arbeitsblog: Einige Fachbetriebe greifen beim Versuch, neues Personal anzuwerben, zu unkonventionellen Mitteln. Ein Handwerksbetrieb in Nürnberg beispielsweise hat die 4-Tage-Woche eingeführt, was zu gesteigerter Produktivität und Mitarbeiterzufriedenheit führte. Sehen Sie solche speziellen Anreize wie längere Erholungsphasen bei vollem Lohnausgleich oder die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf als langfristige Lösungen für das noch unerschöpfte inländische Personalpotenzial? Was können Personaldienstleister für sich daraus ziehen?
Lutz Bellmann: Auch hier können Personaldienstleister Brücken bauen. Sicherlich gibt es viele Einzelfälle, in denen Arbeitnehmer auf flexible Arbeitszeitmodelle angewiesen sind. Hier Lösungen zu suchen, ist durchaus sinnvoll. In vielen Ländern, zum Beispiel in diesem Jahr in Spanien oder 2015 in Schweden, wurden Pilotprojekte durchgeführt, bei denen die Mitarbeitenden 100 Prozent Gehalt für 80 Prozent Arbeitszeit erhalten haben. Wenn man das Arbeitszeitvolumen reduziert, gelangt man zu unterschiedlichen Ergebnissen: In manchen Unternehmen änderte die verringerte Arbeitszeit nichts am Output, das Gehalt müsste in diesem Fall also nicht nach unten angepasst werden. Eine 4-Tage-Woche kann man also auch so verstehen, dass Mitarbeiter nur an vier Tagen arbeiten, dafür aber bereit sind, ihre reduzierte Arbeitszeit durch ein höheres Arbeitspensum an diesen vier Tagen auszugleichen.
Generell kommt es bei der Frage von Arbeitszeitreduzierungen für viele Arbeitgeber darauf an, ob die Hintergründe aufseiten des Arbeitnehmers vorübergehende oder dauerhafte sind. Individuelle Arbeitszeitreduzierungen kommen beispielsweise für Menschen in Frage, die ihrem bislang weniger Stunden arbeitenden Ehe- oder Lebenspartner Karrierechancen einräumen wollen. Dadurch kann dann in der Folge unter Umständen sogar weiteres Potenzial für den Arbeitsmarkt ausgeschöpft werden. Ein solches Entgegenkommen auf Arbeitgeberseite schafft oft ein Klima der Zusammenarbeit, das sich über viele Jahre positiv auswirken kann. Ein einzelner Arbeitnehmer oder ein Paar, das diese Möglichkeiten kennengelernt hat, wird ein unflexibleres Stellenangebot dann womöglich nicht in Anspruch nehmen.
Wenn man diese ganze Thematik im größeren Kontext sieht, können alternative Arbeitszeitmodelle sehr sinnvoll sein. Es ist für die Mitarbeiterbindung sehr förderlich, wenn Arbeitgeber ihr Entgegenkommen ausdrücken. Andererseits ist es auf der personalwirtschaftlichen Seite oft schwierig, diese Lösungen zu planen und durchzuführen, da sie mit einem höheren Aufwand einhergehen. Wenn die Personalabteilung genauso unterbesetzt ist wie der Rest des Unternehmens, wird es besonders schwierig. Hier könnte auch wieder ein Personaldienstleister ins Spiel kommen. Es gibt bereits Personaldienstleister, die auf Arbeitszeitfragen spezialisiert und es somit gewohnt sind, an alle möglichen Eventualitäten zu denken, die in solchen Zusammenhängen erforderlich werden. Insofern kann ich mir durchaus vorstellen, dass mehr Bewegung aufseiten der Arbeitgeber erfolgversprechend ist.
Prof. Dr. Lutz Bellmann
Lutz Bellmann war von 2009 bis 2021 Lehrstuhlinhaber für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Arbeitsökonomie, an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Außerdem ist er seit Anfang dieses Jahres Professor an der Nikolaus-Kopernikus-Universität im polnischen Torún. Bereits seit 1988 ist Bellmann beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) tätig, wo er 25 Jahre lang das IAB-Betriebspanel leitete sowie die zweijährige Studie „Betriebe in der Covid 19-Krise“.
https://www.iab-forum.de/autor/prof-dr-lutz-bellmann/
Vorschau: Im zweiten Teil unseres Specials rund um das Thema Fachkräftemangel sprechen wir mit Prof. Dr. Bellmann über die Einwanderung von Fachkräften aus Drittstaaten, das Drei-Stufen-Qualifizierungsmodell des BAP sowie über den Mehrwert der Personaldienstleistungen für den deutschen Arbeitsmarkt.