27.06.2022 Alexander Bissels

Aktuelles vom EuGH: Erfasst der Gleichstellungsgrundsatz auch die Urlaubsabgeltung?

  • Der Europäische Gerichtshof (EuGH) nimmt – gerade in Bezug auf die gesetzlichen Bestimmungen der Zeitarbeit – eine bedeutsame Rolle mit Blick auf die Auslegung und Anwendung des AÜG ein.
  • Zuletzt musste sich der EuGH mit zahlreichen Fragen zur Überlassungshöchstdauer befassen. Zudem sind in Luxemburg bekanntermaßen zwei weitere Vorlageverfahren deutscher Gerichte anhängig.
  • Allerdings erweisen sich auch die Gerichte anderer EU-Staaten mit Blick auf die Umsetzung der Zeitarbeitsrichtlinie in der jeweils betroffenen Jurisdiktion als durchaus „vorlagefreudig“.
  • Zuletzt musste der EuGH aufgrund eines Beschlusses eines portugiesischen Arbeitsgerichts mit dem Anwendungsbereich und dem Umfang des Gleichstellungsgrundsatzes beschäftigen.
  • Dr. Alexander Bissels, Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei CMS Hasche Sigle, ordnet die Entscheidung des EuGH ein und geht auf die Folgen für die Umsetzung der Zeitarbeitsrichtlinie in Deutschland ein.

Im Oktober 2017 schlossen zwei Arbeitnehmer mit der L-Temp Zeitarbeitsverträge, auf deren Grundlage sie dann einem Unternehmen überlassen wurden. Der Einsatz endete zwei Jahre später. Aus der betreffenden Pressemitteilung des EuGH ergibt sich zusammengefasst Folgendes:

Die Arbeitnehmer erhoben gegen die L-Temp Klage auf Zahlung der für die Zeit, in der sie bei dem Kunden beschäftigt waren, als bezahlter Jahresurlaub und Urlaubsgeld geschuldeten, aber nicht gezahlten Beträge. Sie meinen, dass sich der bezahlte Jahresurlaub und das entsprechende Urlaubsgeld nach der allgemeinen Regelung für bezahlten Jahresurlaub richteten. Die L-Temp vertrat hingegen die Auffassung, dass insoweit die für Zeitarbeitnehmer geltende gesetzliche Spezialregelung für bezahlten Urlaub maßgeblich sei. Danach hätten die Arbeitnehmer Anspruch auf weniger bezahlten Urlaub und Urlaubsgeld, als wenn sie von dem Einsatzunternehmen unmittelbar für denselben Zeitraum und den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wären.

Sind die gesetzlichen Bestimmungen mit der Zeitarbeitsrichtlinie vereinbar?

Das Bezirksgericht Braga, Arbeitsgericht Barcelos, fragt sich, ob die genannte gesetzliche Spezialregelung mit der Zeitarbeitsrichtlinie – nachfolgend kurz „Richtlinie“ – vereinbar ist. Es weist insoweit darauf hin, dass diese zwischen Zeitarbeitnehmern, die einem Unternehmen für einen Zeitraum von zwölf oder mehr Monaten oder für einen Zeitraum, der im Laufe eines Kalenderjahres beginne und erst zwei oder mehr Kalenderjahre später ende, überlassen würden, und den Arbeitnehmern, die von dem Kundenunternehmen unmittelbar eingestellt worden seien, zu einer Ungleichbehandlung führe, als sich der Anspruch der Zeitarbeitnehmer auf bezahlten Urlaub und das entsprechende Urlaubsgeld stets anteilig nach der Dauer ihrer Beschäftigung richte, während die Arbeitnehmer, die von dem Einsatzunternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden seien, unter sonst gleichen Bedingungen in den Genuss der günstigeren allgemeinen Regelung kommen könnten. Zu einer solchen Ungleichbehandlung komme es allerdings nicht, wenn die Dauer der Beschäftigung unter zwölf Monaten liege oder wenn das Arbeitsverhältnis im Laufe eines Kalenderjahres beginne und im Laufe des folgenden Kalenderjahres ende.

Die portugiesische Regierung machte geltend, dass die gesetzliche Spezialregelung weder die Modalitäten und spezifischen Bestimmungen für die Berechnung des Urlaubs der Zeitarbeitnehmer noch die Auswirkungen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf den Urlaubsanspruch regele. Deshalb komme die allgemeine (gesetzliche) Bestimmung zum Tragen, die unabhängig von der Art des Vertragsverhältnisses (ebenfalls auf Zeitarbeitnehmer) Anwendung finde und hinsichtlich der Berechnung des bezahlten Urlaubs und der Auswirkungen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf den Urlaubsanspruch besondere Fälle vorsehe.

Die Entscheidung des EuGH

Der EuGH entschied, dass die Richtlinie einer nationalen Regelung entgegenstehe, nach der die Abgeltung (für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub und das entsprechende Urlaubsgeld), auf die die Zeitarbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit einem Einsatzunternehmen Anspruch hätten, geringer sei als die Abgeltung, auf die sie in einer solchen Situation aus demselben Grund Anspruch hätten, wenn sie von dem Einsatzunternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz und für die gleiche Beschäftigungsdauer eingestellt worden wären. Der EuGH stellte in diesem Zusammenhang fest, dass der Begriff der „wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen“ im Sinne der Richtlinie eine Abgeltung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub und das entsprechende Urlaubsgeld, die der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer wegen der Beendigung des Zeitarbeitsverhältnisses zu zahlen habe, umfasse.

Mit Blick auf die Tragweite des Grundsatzes der Gleichbehandlung geht der EuGH davon aus, dass für Zeitarbeitnehmer nach der Richtlinie während der Dauer ihrer Überlassung an ein Unternehmen zumindest die gleichen wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gelten müssten wie diejenigen, die für sie gelten würden, wenn sie von dem betreffenden Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wären. Das nationale Gericht werde zu prüfen haben, ob dieser Grundsatz eingehalten werde. Bei der Bestimmung der Höhe der Abgeltung, auf die betreffenden Arbeitnehmer Anspruch hätten, werde es insbesondere zu prüfen haben, ob im vorliegenden Fall – wie die portugiesische Regierung geltend mache – die allgemeine Urlaubsregelung anwendbar sei, da der Ausdruck „anteilig nach der Dauer ihrer Beschäftigung“ in Verbindung mit den übrigen Vorschriften der allgemeinen Urlaubsregelung zu sehen sei. Wäre dies der Fall, wäre nämlich kein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung festzustellen.

Dr. Alexander Bissels

Kommentar Dr. Alexander Bissels:

Der EuGH stellt zunächst fest, dass sich der Gleichstellungsgrundsatz auch auf den Anspruch auf Urlaubsabgeltung sowie auf die Zahlung eines Urlaubsgeldes, das wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu zahlen ist, erstreckt. Das nationale Gericht wird auf dieser Grundlage in dem konkreten Fall in einem ersten Schritt zu prüfen haben, welche wesentlichen Arbeitsbedingungen für den Zeitarbeitnehmer gelten würden, wenn er bei dem Einsatzunternehmen selbst eingestellt und beschäftigt worden wäre. Diese sind in einem zweiten Schritt mit den tatsächlichen Arbeitsbedingungen, die für den Zeitarbeitnehmer während der Überlassung gelten, zu vergleichen, um überprüfen zu können, ob der Gleichstellungsgrundsatz eingehalten worden ist. Auf einen Satz heruntergebrochen ergibt sich aus der Entscheidung des EuGH Folgendes: Die einem Zeitarbeitnehmer gezahlte Abgeltung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub und das entsprechende Urlaubsgeld muss mindestens derjenigen entsprechen, die er erhalten würde, wenn er von dem Einsatzunternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz und für die gleiche Beschäftigungsdauer eingestellt worden wäre.

Wichtig ist, dass der EuGH darauf hinweist, dass die Richtlinie auch die Möglichkeit vorsieht, von der Anwendung des Gleichstellungsgrundsatzes abzuweichen. Aus den vorliegenden Unterlagen und der Vorlageentscheidung ist für den EuGH jedoch nicht ersichtlich, dass Portugal von einer entsprechenden Ausnahme Gebrauch gemacht hat. Dieser Hinweis ist für das deutsche Recht von (nicht unerheblicher) Bedeutung, da der Gesetzgeber die in der Richtlinie vorgesehene Abweichungsmöglichkeit vom Gleichstellungsgrundsatz in § 8 AÜG umgesetzt hat. Von dieser wird in der Praxis durch die Anwendung der Tarifwerke der Zeitarbeit (BAP/DGB und iGZ/DGB) rege Gebrauch gemacht, sodass die Auswirkungen des Verfahrens auf die deutsche Rechtsordnung als begrenzt zu bezeichnen und letztlich „nur“ für solche Konstellationen von Relevanz sind, bei denen der Gleichstellungsgrundsatz nicht abbedungen wurde (weil keine Tarifverträge der Zeitarbeit angewendet werden) oder nicht mehr abbedungen werden kann (weil die Drehtürklausel nach § 8 Abs. 3 AÜG einschlägig ist oder der Einsatz über den vollendeten neunten Monat andauert, ohne dass ein Branchenzuschlagstarifvertrag einschlägig ist).

Spannend sind zudem die Ausführungen des EuGH zur Urlaubsabgeltung. Das Gericht begründet umfänglich, dass sich der Gleichstellungsgrundsatz insbesondere auf diese erstreckt. Diese Erkenntnis wirkt – zumindest aus der „deutschrechtlichen“ Brille – etwas überraschend.

– Dr. Alexander Bissels

Dennoch lohnt sich ein vertiefender Blick auf die inhaltlichen Ausführungen des EuGH: Anerkannt ist, dass der Urlaub eine wesentliche Arbeitsbedingung nach der Zeitarbeitsrichtlinie darstellt. Für das Urlaubsentgelt ist umstritten, ob dieses dem Arbeitsentgelt oder den sonstigen wesentlichen Arbeitsbedingungen i.S.v. § 8 Abs. 1 S. 1 AÜG zuzuordnen ist. Diese Unterscheidung, die in der Zeitarbeitsrichtlinie nicht getroffen wird, ist aus „deutschrechtlicher“ Sicht erheblich, da nach § 8 Abs. 4 AÜG die Abweichung vom Gleichstellungsgrundsatz hinsichtlich des Arbeitsentgelts nur für die ersten neun Monate der Überlassung, im Übrigen, d.h. hinsichtlich der sonstigen wesentlichen Arbeitsbedingungen, aber zeitlich weiterhin unbegrenzt möglich ist. Richtigerweise wird das Urlaubsentgelt als „urlaubsbezogene Arbeitsbedingung“ den sonstigen Arbeitsbedingungen und nicht dem Arbeitsentgelt zugerechnet. Die von der BA – gleichsam undifferenziert – in deren Weisungen zum AÜG vertretene abweichende Ansicht vermag nicht zu überzeugen, da diese die seit dem 01.04.2017 geltende Rechtslage, nach der vom Arbeitsentgelt nur in den ersten neun Monaten der Überlassung, ansonsten von den wesentlichen Arbeitsbedingungen aber nach wie vor zeitlich unbegrenzt durch die Anwendung der Tarifverträge der Zeitarbeit abgewichen werden kann, nicht hinreichend berücksichtigt.

EuGH vs. BAG: Wird eine Urlaubsabgeltung vom Gleichstellungsgrundsatz erfasst?

Spannend sind zudem die Ausführungen des EuGH zur Urlaubsabgeltung. Das Gericht begründet umfänglich, dass sich der Gleichstellungsgrundsatz insbesondere auf diese erstreckt. Diese Erkenntnis wirkt – zumindest aus der „deutschrechtlichen“ Brille – etwas überraschend. Nach der bislang vertretenen herrschenden Auffassung gilt nämlich Folgendes, nachfolgend das BAG wörtlich:

„Wird Urlaubsabgeltung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses verlangt, bestimmt sich die Berechnung des Anspruchs nach dem BUrlG [Anm. des Verfassers: bzw. den einschlägigen tariflichen Regelungen]. Die Urlaubsabgeltung ist bei durchgehender Überlassung an einen Entleiher gem. § 7 Abs. 4, § 11 BUrlG [Anm. des Verfassers: bzw. den einschlägigen tariflichen Regelungen] zu berechnen. Es findet keine fiktive Berechnung auf der Basis des Arbeitsentgelts vergleichbarer Stammarbeitnehmer oder der für diese geltenden Urlaubs- bzw. Urlaubsabgeltungsbestimmungen statt, denn Voraussetzung für die Urlaubsabgeltung ist (regelmäßig) die Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Damit endet spätestens auch die Überlassung des Leiharbeitnehmers, so dass ein Anspruch auf equal pay nicht mehr besteht.“

Der EuGH sieht den Anspruch auf Urlaubsabgeltung folglich als vom Gleichstellungsgrundsatz erfasst an, während das BAG davon ausgeht, dass ein Anspruch auf Gleichstellung nur während der Überlassung besteht, ein Anspruch auf Urlaubsabgeltung jedoch erst mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses entstehen kann und zu diesem Zeitpunkt (zwangsläufig) auch die vorherige Überlassung geendet haben muss; die Gleichstellung schließt folglich die Urlaubsabgeltung nicht mit ein. Fraglich ist aber, ob die Ausführungen des EuGH zur Auslegung des Gleichstellungsanspruchs tatsächlich Konsequenzen für das deutsche Recht haben werden, denn das Gericht führt zur Tragweite des Grundsatzes aus, dass nur während der Dauer der Überlassung mindestens die gleichen wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gelten müssten wie diejenigen, die für die überlassenen Mitarbeiter gelten würden, wenn sie von dem Kunden unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wären. Damit wäre grundsätzlich ein Gleichlauf zwischen der Ansicht des EuGH, der die Urlaubsabgeltung grundsätzlich dem Gleichstellungsgrundsatz zuschlägt, aber sodann den Anspruch mit der Dauer der Überlassung verknüpft, und der Auffassung des BAG hergestellt, die insbesondere den letztgenannten Punkt betont.

Selbst wenn man davon ausgehen müsste, dass der Anspruch auf Urlaubsabgeltung im Rahmen der Gleichstellung zu beachten wäre, würde es sich um eine „urlaubsbezogene Arbeitsbedingung“ handeln, die durch die Anwendung der Tarifverträge der Zeitarbeit zeitlich unbegrenzt abdingbar ist. Die Urlaubsabgeltung ist damit Bestandteil von Equal Treatment, aber nicht von Equal Pay.

– Dr. Alexander Bissels

Selbst wenn man davon ausgehen müsste, dass der Anspruch auf Urlaubsabgeltung im Rahmen der Gleichstellung – trotz einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses – zu beachten und im Zweifel „einzupreisen“ wäre, würde es sich um eine „urlaubsbezogene Arbeitsbedingung“ handeln, die durch die Anwendung der Tarifverträge der Zeitarbeit zeitlich unbegrenzt abdingbar ist (s. dazu oben). Die Urlaubsabgeltung ist damit Bestandteil von Equal Treatment, aber nicht von Equal Pay. Diese wird dabei nämlich nicht als klassisches Entgelt für die von dem Arbeitnehmer erbrachte Arbeitsleistung, sondern als Kompensation für nicht genommenen Urlaub in Form von Freizeit erbracht. Damit handelt es sich nicht um „Entgelt“, sondern um eine „wesentliche Arbeitsbedingung“ nach § 8 Abs. 1 S. 1 AÜG. Die Auswirkungen der Entscheidung des EuGH dürften vor diesem Hintergrund als überschaubar bezeichnet werden.

Am Rande noch ein Termin in Zusammenhang mit dem Gleichstellungsgrundsatz, den man sich in jedem Fall notieren sollte: Für den 14.07.2022 sind die Schlussanträge des Generalanwalts am EuGH zu dem dort anhängigen Vorlageverfahren des BAG zu den Anforderungen an den Gesamtschutz der Zeitarbeitnehmer bei der Abbedingung des Gleichstellungsgrundsatzes durch die Tarifverträge der Zeitarbeit angekündigt. Aus diesen lassen sich im Zweifel schon erste Erkenntnisse ableiten, „in welche Richtung die Reise, sprich das Verfahren, gehen wird“. Zwar ist der EuGH an die Schlussanträge des Generalanwalts bzw. dessen Ansicht nicht gebunden, jedoch folgt er diesen/dieser in der Praxis regelmäßig.

Es bleibt also – aufgrund der zu erwartenden Impulse aus Luxemburg – insbesondere für die deutschen Rechtsanwender weiter spannend.

Das Urteil des EuGH vom 12.05.2022 können Sie hier im Volltext abrufen.

 

Dieser Artikel wurde von Dr. Alexander Bissels erstellt und erschien zuerst im Newsletter „Infobrief Zeitarbeit“.


Dr. Alexander Bissels

Dr. Alexander Bissels ist Partner und Fachanwalt für Arbeitsrecht bei CMS Hasche Sigle. Er berät Unternehmen auf sämtlichen Gebieten des Individual- und Kollektivarbeitsrechts, insbesondere zu Fragen im Bereich des Fremdpersonaleinsatzes (Arbeitnehmerüberlassung und Werkvertrag). Dr. Bissels ist Autor zahlreicher Publikationen, u.a. Mitherausgeber eines Standardkommentars zum AÜG. Darüber hinaus hält er regelmäßig Vorträge zu aktuellen arbeitsrechtlichen Themen.

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